Das ist die zentrale Frage im Roman „Vom Ende der Einsamkeit“*, den ich im Augenblick lese. Benedict Wells erzählt darin die Geschichte von drei Geschwistern, die grundverschieden sind, einige Erlebnisse teilen, manches getrennt erleben und ihr Leben unterschiedlich angehen. Doch der Weg führt Liz und Jules nicht dahin, wohin sie wollen, während Marty stringend seinen Weg findet. Was können sie ändern, um ihren Wünschen und Bedürfnissen näher zu kommen?
Mir gefällt diese Frage: „Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird?“ (Seite 11). Darin steckt ja die Frage: „Was formt das Leben, was forme ich, was ist angeborener Teil meiner Persönlichkeit?“, „Wie nachhaltig beeinflusst mich mein Umfeld?“ und „Wie werde ich der, der ich bin?“.
Und wie werde ich zu der Person, die ich durch mein Potenzial werden könnte, die in mir steckt, die Person, die ich eigentlich bin?
Und wie kann ich den eingeschlagenen Weg verändern?
„Binnen weniger Tage hatte ich unter mein altes Leben einen Schlussstrich gezogen. Dabei war ich mir nicht mal sicher, wie ich mir die Zukunft mit Alva vorstellte. Ich wusste nur, dass ich sie nicht noch einmal gehen lassen konnte. Dass ich nicht mein Leben lang für die Fehler büßen wollte, die ich als Jugendlicher gemacht hatte.
„Ich sag’s dir nur ungern noch mal, aber man kann die Vergangenheit nicht zurückholen oder ändern“, sagte mein Bruder am Telefon. „Doch, man kann“, sagte ich.“ (Seite 207) – Kann man?
Ein knappes Drittel des Buchs liegt noch vor mir, ich bin sehr gespannt, zu welchem Ergebnis Jules kommen wird: Kann man die Vergangenheit und den Lauf der Zukunft ändern?
Einiges in meinem Leben habe ich bewusst, mit klarer Vorstellung und Konsequenz verändert, in einigen Momenten sitzt mir meine Vergangenheit aber noch auf der Schulter und lenkt meine Wahrnehmung und Reaktion – nicht immer zum Schlechten, aber manchmal zum Irrationalen.
Diese Momente der Unterscheidung zwischen „automatisiertem“, unbewusstem und bewusstem Handeln möchte ich immer leichter erkennen, die möglichen Entscheidungen in der Gegenwart immer wieder aktiv fällen, auch unsichere Wege gehen und damit neues Vergangenes schaffen; eine Vergangenheit schließlich, die eine stimmige Gegenwart ermöglicht und in eine neue Zukunft führt – meine Zukunft.
Ich liebe Literatur, wenn sie Freiraum schafft für Empfindungen, Gedanken, Gespräche, Irritationen, Diskussionen, Träume… Ein Freiraum, der mir die Möglichkeit gibt, neue Lebensmodelle zu erleben, mich selbst zu entdecken.
Damit ich immer mehr die werde, die ich bin.
*Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit, Diogenes Verlag, Zürich, 2016.
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