Die beiden jungen Frauen sprachen leise, der leere Zugwaggon liess mich auch ungewollt ihrem Gespräch folgen. Ich konnte sie nicht sehen, sie saßen zwei Reihen vor mir, es war still um uns und die ruhige Fahrt lud uns alle offenbar zu Reflexionen ein.
„Natürlich wusste ich, dass es nicht schlimm wäre, wenn ich scheitere und die Prüfung nochmal schreiben muss, aber ich wollte es unbedingt schaffen. Ich bin echt ehrgeizig. Da kann ich mich regelrecht in mein Ziel verbeißen“, sagte die eine Stimme. „Aber du hast es schließlich geschafft. Du kannst echt stolz auf dich sein! Mir wäre es zu viel gewesen. Ich bewundere deinen Ehrgeiz, damit erreichst du, was du dir vornimmst,“ antwortete die zweite, „mir wäre es der Einsatz nicht wert.“ – „Das stimmt schon. Mein Ehrgeiz treibt mich ganz schön an, er hilft mir die Zähne zusammenzubeißen und Hürden zu überwinden. Wenn ich so überlege, verdanke ich ihm wahrscheinlich meine Erfolge,“ denkt sie laut nach und erzählt weiter. „Aber weißt du, anstrengend ist das schon, ich steigere mich dann regelrecht da hinein und will es unbedingt gut schaffen. In so einer Zeit bin ich dann unglaublich konzentriert, ich entwickle große Energie und eine starke Fokussierung, da wird daneben alles unwichtig, nichts kann mich mehr zurückhalten. Mein Ziel erreiche ich dann damit auch, zumindest bisher, das ist richtig – aber es kostet mich auch einiges. Und für meinen Freund bin ich in der Zeit nicht gerade die angenehmste Partnerin.“ Sie atmet laut aus.
Die Zweite entgegnet: „Du hast halt einen unglaublich starken Willen und bleibst dann auch dran. Ich kann das nicht, ich beginne zu zögern und zu zweifeln, wenn es schwierig wird. Und dann ist es schon zu spät. Ich rechtfertige mein Nichtstun damit, dass ich das Ziel wahrscheinlich sowieso nicht erreichen würde, dass es mir nicht so gut gelingen wird … und dass es mir ja gar nicht so wichtig ist. Im Übrigen hat es ja auch wirklich Vorteile, nicht ehrgeizig zu sein: so kann ich mein Ziel nicht verfehlen. Und ich hab ein ruhigeres Leben! Außerdem will ich ja gar nicht so gut sein: gut sein bedeutet ja auch, dass man stärker auf dich schaut und dann ist man nicht mehr so frei zu machen und vor allem zu lassen, wenn einem nicht danach ist, mehr zu tun. Zum Schluss hat man mehr Verantwortung und ist in der Pflicht. Ich bin lieber nicht bei den Besten, mittelmäßig ist ok, einfach gut genug. Das reicht mir, damit kommt man gut durch und hat ein schönes Leben.“ Eine kleine Pause entsteht in der Unterhaltung zwischen den beiden jungen Frauen, die Schaffnerin fragt beim Durchgehen durch den Zugwagen nach unseren Fahrkarten. Als wir wieder alleine sind, setzt die Ehrgeizige wieder an und fährt den Gedankenaustausch fort:
„Das stimmt natürlich schon, was du sagst, aber ich brauche den Kick, ich möchte einen Ansporn haben. Das macht mir Spaß. Ich hab gerne Ziele und gebe dann auch mein Bestes, bin mit mir im Wettkampf und schaue, wie weit ich komme. Klar ist das manchmal anstrengend und aufregend ist es auch, aber ich mag es, gefordert zu sein. Ich hab dann das Gefühl, weiter zu kommen und mich weiter zu entwickeln, das gefällt mir. Stillstand ist mir irgendwie suspekt.“ Eine erneute Pause entsteht, ich höre Papier rascheln und dann das Zischen eines Flaschenverschlusses, als die Luft beim Öffnen entweicht. Die erste Stimme lacht.
„Auf jeden Fall bin ich froh, dass du Zeit und Muße hattest, und uns das kleine Appartement im Internet gefunden hast, so dass nun eine tolle Woche auf uns wartet – und sogar Zeit hattest, uns ein leckeres Picknick zu machen. Während ich nur gebüffelt habe. Wie schön, dass du andere Ziele hast als ich: es einfach schön und es gut zu haben! Weißt du was, ich lade dich die Tage zu einem richtig tollen Essen ein, mein nächstes Ziel ist ja die Gehaltserhöhung!“ Beide lachen, das Rascheln der Tüten, das Öffnen von Tupperdosen dominiert jetzt die Situation, ich packe meine Tasche und mache mich fertig zum Aussteigen.
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