„Die erzürnte Frau scheint das große Thema unserer Zeit zu sein“, lese ich angesichts aktueller Kinofilme, Buch-Neuerscheinungen und Opernaufführungen, die jeweils eine kämpfende, wütende Frau zu Wort kommen lassen: Wonder Woman, Star Wars, Speak Out!, Untenrum frei, Die letzten Tage des Patriarchats, Juditha triumphans, u.a.* Wut und Zorn sind entfesselte Gefühle. Gefühle, die sich gegen Ohnmacht und Hilflosigkeit wehren. Und gegen Ungerechtigkeit. Gefühle brechen aus, Gefühle zerstören…
Gefühle stören. Wozu Gefühle?
Fakt ist: Gefühle gehören zu uns, ob es uns gefällt oder nicht. Ohne Gefühle sind wir nicht menschlich. In unseren Gefühlen reagieren wir unterschiedlich stark emotional, auch ein Fakt. Wären Gefühle nicht da, könnten wir sachlich, lösungs- und themenzentriert agieren. Mit Gefühlen entsteht Chaos. Wenn Gefühle aber stören geht es nicht darum, keine Gefühle zu haben, sondern den Umgang mit ihnen zu beherrschen, den Umgang zu können.
Warum überhaupt Gefühle? Gefühle geben uns Richtung, zeigen uns, was unsere innere Wahrheit ist. Ohne Gefühl der Zuneigung… wie würde ich bemerken, dass ich Liebe für einen Menschen empfinde? Ohne Gefühl der Traurigkeit… wie würde ich erleben, dass ich einen Verlust empfinde, enttäuscht bin? Ohne Ärger… würde ich für meine bessere Positionierung, ein besseres Gehalt, die Berücksichtigung meiner Beförderung, eine Veränderung eintreten? Gefühle sind mein Seismograf, durch den ich Größe und Qualität meiner Erschütterung angezeigt bekomme – positiver wie negativer Gefühle. Die Interpretation dieses Reizes nehme ich dann auf der Basis meiner Wahrnehmung und Erfahrung vor – und potenziell auch mithilfe meines Verstandes. Dann kommt das Handeln.
„Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen“ sagte Viktor Frankl. Folge ich ungesteuert meinem Impuls, so bin ich in der Re-Aktion. Erlaube ich mir, den „Raum“ zwischen dem Impuls von außen und meiner Reaktion zu nutzen, so wächst meine Freiheit. Die Freiheit zu entscheiden, wie ich reagieren werde. „In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit“ sagte entsprechend Viktor Frankl weiter.
Unterdrücke ich Gefühle, so fehlen mir wichtige Informationen zu meiner Wahrnehmung und zu meiner Empfindung; den Entscheidungen, die ich in der Konsequenz treffen werde, fehlt eine substanzielle Ebene. Interpretiere ich meine Gefühle fehlerhaft, so bleiben wichtige Wahrheiten unerkannt. Vielleicht fahre ich damit ruhiger, vielleicht fahre ich damit nicht langfristig gut. Vielleicht fordern diese irgendwann ihren Tribut und äußern sich dann z.B. in Gefühlen von Bitterkeit, Überheblichkeit, Arroganz, Hoffnungslosigkeit, Freudlosigkeit, Depressivität. Negativität und Zynismus sind die Folge.
Zynismus ist das Gift der Enttäuschten: Bitterkeit und Enttäuschung haben die Person regelrecht vergiftet. {Übrigens nicht zu verwechseln mit Humor.} Zynismus findet seinen Ausdruck in der Denk- und Handlungsweise, in einer gefühl- und mitleidlosen, menschenverachtenden Haltung. Mit der Negativität vergifte ich genauso mein Umfeld, meine Handlungen wie mich selbst, keine Basis für Hoffnung und Zukunft. So werden aus nicht-verarbeiteten Gefühlen überkontrollierte und damit in-adäquate Reaktionen.
Wie kann die „erzürnte Frau“ ** auf der Leinwand, zwischen den Buchdeckeln oder auf der Bühne, stellvertretend für unseren gefühlten Zorn, für unsere Wut, unser Rachegefühl, die Suche aus Ohnmacht und erlebter Ungerechtigkeit, ausdrücken? Wie kämpft sie für sich? Was erlebe ich hier? So starke Gefühle wie Wut und Zorn sind vielleicht unangenehm, für mich selbst und für mein Umfeld… und werden daher als negativ interpretiert. Doch in ihnen steckt weit mehr: Wenn wir unseren Seismografen genau ausrichten, so stecken darin weit mehr Gefühle darin: wie z.B. ein Bedürfnis nach Veränderung, ein Empfinden von Stärke und Aufbäumen, von Wehrhaftigkeit, das Bedürfnis für das eigene Selbstwertgefühl einzutreten und ein Gefühl von Hoffnung. Die „erzürnte Frau“ kämpft, sie gibt nicht auf, sie macht – und gewinnt Macht.
Ich muss an eine Kundin denken, die neulich in der Beratung war: Ärger begleitete ihren Alltag, Bitterkeit hatte sich ihm zugesellt. Nachdem sie bereits viele Jahre den Weg nicht gefunden hatte, wie sie sich gegenüber ein Zu-Viel an Arbeit abgrenzen konnte, hatte sie angefangen, mit Ärger und Wut auf Kollegen und Kolleginnen zu reagieren, die sie um Unterstützung baten – und sich zunehmend zurückgezogen. Im Unternehmen ist sie als Expertin sehr geschätzt und anerkannt. Sie kam in mein Büro mit dem starken Wunsch, den Beruf zu wechseln, da dieser sie unglücklich mache. Als sie ihrem Ärger genau nachging, stellte sie fest, dass dieser ihr auch ganz viel Kraft gibt. Kraft, zu kämpfen, nicht aufzugeben, den Wunsch aufrecht zu erhalten, Kraft, einen Weg zu finden für den konstruktiven Umgang mit der Situation; und so darin neben der Ohnmacht auch ein großer Teil Hoffnung enthalten ist. Ihr Ärger wird auf einmal kein Feind mehr, der weg muss, sondern ein starker Partner, der ihr hilft, auszuhalten, einen Ausweg zu suchen, an der Situation zu wachsen.
Die „erzürnte Frau“ kämpft… und wird selbstbewusst ihren Weg finden.
P.S. Am 08.03. ist übrigens wieder Internationaler Frauentag, da werden sicherlich wieder einige „erzürnte Frauen“ zu sehen und zu hören sein. Aufgepasst. 🙂
* Reihe 5, das Magazin der Staatstheater Stuttgart, Heft Nr. 19, 03-05/2020, Seite 22: „Die Ära der Rächerin“ von Thomas Lindemann
** Die „erzürnte Frau“ meint natürlich – auf der persönlich-individuellen Ebene – ebenso auch verärgerte, unzufriedene Männer, die aus ihrer empfundenen Sackgasse einen Ausweg suchen.
Auf der gesellschaftlichen Ebene geht es hier natürlich um einen kritischen sozio-kulturellen Blick auf die Situation der Frau als Bild der Unterrepräsentierten, der Ohn-Mächtigen, Sich-Wehrenden, Verändernden… Unzufriedenen.
Von meiner Freundin erhielt ich einen tollen Tipp: Fast zeitgleich mit meinem Post (nämlich am 05.03.2020) erschien im Süddeutsche Zeitung Magazin ein Beitrag exakt zu diesem Thema, Frauen, die ihre Wut ausdrücken. Teresa Bücker schreibt unter dem Titel „Ist es radikal, wütend zu sein?“ (https://sz-magazin.sueddeutsche.de/freie-radikale-die-ideenkolumne/wut-feminismus-88440) über wütende und lieber doch depressive statt wütenden Frauen. Sie schreibt: „Nicht wütend zu sein ist ein Privileg. Denn Wut ist eine angemessene Reaktion auf eine existierende Ungerechtigkeit. Wenn also den Menschen ihre Wut abgesprochen wird, die sich gegen ihre Diskrimierung engagieren, richtet sich die Kritik gegen das Anliegen selbst.“
Wut ist manchmal durchaus radikal: „Für Frauen schon. Wut wird als unkonstruktiv gebrandmarkt, um weiblichen Forderungen die Wucht zu nehmen. Schluss damit!“
Danke, Susanne, für den Hinweis zu diesem tollen Essay.